Unsere Atmung ist mehr als nur ein biologischer Prozess. Sie verbindet Körper, Geist und Emotion auf subtile, aber tiefgreifende Weise. Während viele Prozesse unseres Körpers – wie Herzschlag, Verdauung oder Hormonausschüttung – vollständig autonom ablaufen, ist die Atmung die einzige vegetative Funktion, auf die wir bewusst Einfluss nehmen können.
Genau das macht sie zu einem machtvollen Werkzeug: Durch bewusste Atemsteuerung können wir direkt auf das vegetative Nervensystem (VNS) einwirken – und damit auf Stress, Anspannung, Konzentration, Schlafqualität und emotionale Stabilität.
Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Hauptkomponenten:
Sympathikus (Aktivierungsmodus): Erhöht Puls, Atemfrequenz, Muskelspannung – versetzt den Körper in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit.
Parasympathikus (Regenerationsmodus): Beruhigt den Organismus, verlangsamt die Herzfrequenz, fördert Verdauung und Entspannung.
Im Idealfall wechseln sich diese beiden Systeme harmonisch ab – je nachdem, ob wir uns gerade in Aktivität oder Erholung befinden. Diese Anpassungsfähigkeit wird als vegetative Flexibilität bezeichnet und ist eine zentrale Voraussetzung für Resilienz und Gesundheit.
Was die Atmung so einzigartig macht, ist ihre Doppelrolle:
Autonom: In Ruhe atmet der Körper automatisch – ohne unser Zutun.
Willkürlich steuerbar: Wir können jederzeit bewusst eingreifen – den Atem verlangsamen, vertiefen oder rhythmisieren.
Dieser bewusste Zugriff erlaubt es, regulierend auf unser inneres Gleichgewicht einzuwirken. Schon wenige bewusste Atemzüge können das Nervensystem beruhigen, die Herzfrequenz senken und mentale Klarheit fördern.
Wissenschaftlich gut belegt sind unter anderem folgende Effekte:
Verminderung der Stressreaktion: Langsame, tiefe Atmung erhöht die Aktivität des Parasympathikus und reduziert die Ausschüttung von Stresshormonen (z. B. Cortisol).
Verbesserung der Herzratenvariabilität (HRV): Eine hohe HRV ist ein Marker für Anpassungsfähigkeit und Resilienz – langsame, gleichmäßige Atmung steigert diese Variabilität.
Beruhigung der Amygdala: Die Amygdala ist ein Zentrum für Angst und Reizverarbeitung im Gehirn. Bewusste Atmung reduziert deren Überaktivierung.
Stärkung der Interozeption: Atmung verbessert die Fähigkeit, innere Körperzustände (wie Herzschlag, Muskeltonus oder emotionale Spannungen) wahrzunehmen – eine Schlüsselkompetenz für Selbstregulation.
In Momenten von Überforderung, Angst oder Gedankenkreisen kann der Atem ein unmittelbarer Anker sein. Er ist immer da, er bewegt sich immer im Jetzt – und erlaubt uns, uns selbst zu zentrieren, ohne etwas „lösen“ zu müssen.
Atmung ist somit nicht nur ein Mittel zur Entspannung, sondern auch eine Praxis der Achtsamkeit, der Klarheit und der Selbstwirksamkeit.
Bereits im Säuglingsalter ist die Atmung ein Schlüsselindikator für das vegetative Gleichgewicht. Unregelmäßige Atmung, Schluckprobleme oder unruhiger Schlaf sind oft Zeichen eines unreifen oder überreizten Nervensystems. Säuglinge profitieren nicht direkt von aktiven Atemübungen – aber durch die Ruhe und Regulation der Bezugsperson. Denn das Nervensystem des Kindes „spiegelt“ die Umgebung (Co-Regulation).
Bei älteren Kindern und Jugendlichen lassen sich über einfache Atembeobachtungen, visuelle Hilfen oder Atemgeschichten Zugänge schaffen, um mit Aufregung, Angst oder Konzentrationsproblemen umzugehen. Die Atmung kann hier ein wirksames Mittel sein, um vegetative Dysbalancen auszugleichen und Resilienz aufzubauen.
Resilienz bedeutet nicht, nie gestresst zu sein – sondern nach Belastung wieder in einen regulierten Zustand zurückzufinden. Die Atmung spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie ist kein Notfallwerkzeug, sondern ein täglicher Begleiter, der regulierende Impulse setzen kann – still, subtil und nachhaltig.
Manche Erlebnisse – wie Schock, Trauma, Dauerstress – können jedoch dazu führen, dass dieser Rückweg blockiert ist. Dann „steckt“ der Körper in einem aktivierten Zustand fest. Atemarbeit kann helfen, diesen Rückweg wieder zugänglich zu machen – in kleinen Schritten, mit Achtsamkeit und Geduld.
Die bewusste Arbeit mit dem Atem ist keine „Technik“, sondern eine Lebenspraxis. Sie bringt uns zurück in Kontakt mit uns selbst – auf körperlicher, emotionaler und mentaler Ebene.
Und sie schenkt uns etwas, das heute oft fehlt: eine stille, innere Kompetenz zur Selbstberuhigung und Zentrierung.